Kollektive Aktionen: Reisen aus der Stadt

Dritter Band

Der Schuss

32. Der Schuss

Einer der Organisatoren der Aktion – G. Kizeval’ter – begleitete die Gruppe der Zuschauer aus Moskau, zum Ort der Handlung, einem Feld bei dem Dorf Kievy Gorki. Zunächst nahm die Gruppe einen Vorortzug und dann ging es weiter mit dem Autobus.
Das Feld befindet sich 15 Minuten Fußweg von der Autobushaltestelle entfernt. Beim Aussteigen aus dem Autobus schaltete G. Kizeval’ter ein Tonbandgerät ein. Auf dem Weg der Zuschauer von der Haltestelle zum Feld war ein Phonogramm zu hören, auf dem sich Pfeiftöne (das Mundstück einer Blockflöte) und tiefe Klänge, die mit einem selbstgebastelten Rohr erzeugt wurden, abwechselten. Das Klanggewebe des Phonogramms erinnerte an den Signalaustausch zwischen einer Schiffssirene und dem Pfeifen einer Lokomotive. Die Zuschauer wurden auf das Feld bis zu einem im Wind flatternden Vorhang geführt. Dieser trennte die Zuschauerposition von dem gepflügten Teil des Ackers, auf dem die Aktion stattfinden sollte. Zwischen dem Vorhang und dem Acker war ein schmaler Feldstreifen, der mit nicht allzu hohem Gras bewachsen war. Dorthin stellte Kizeval’ter das ausgeschaltete Tonbandgerät und drehte die Kassette um. Das Phonogramm auf der anderen Seite war 45 Minuten lang und bestand aus –in verschiedenen Intervallen aufgezeichneten – elektrischen Klingelgeräuschen verschiedener Länge. Eine fünfminütige Aufzeichnung von ziemlich lautem Vogelgezwitscher bildete das Ende des Phonogramms.
Kizeval’ter stellte das ausgeschaltete Tonband vor die Zuschauer und ging auf das gepflügte Feld zu seiner Position neben dem in einer Grube unsichtbar für die Zuschauer liegenden Letov – rechts von den Zuschauern in einer Entfernung von 60 Metern. Danach kam auch Monastyrskij, der sich unter den Zuschauern befand – auf das Feld und stellte dort 11 Plastikrohre (von 1,50 m Höhe) auf und fünf rote – mit Hirse gefüllte – Säcke, die am oberen Ende hoher Stangen befestigt waren.
Einer der Säcke wurde am entgegengesetzten Rand des Feldes aufgestellt. Nachdem Monastyrskij seine Position neben Kizeval’ter und dem in der Grube liegenden Letov eingenommen hatte, kam Panitkov auf das Feld, steckte in die Öffnungen der von Monastyrskij aufgestellten Rohre biegsamen Draht und formte aus ihnen Figuren: menschliche Profile, Tierkonturen, Vögel usw. Als er die letzte Figur aus dem weit entfernten roten Sack geformt hatte, schoss Panitkov mit einem Gummiband einen Holzpfeil, dessen Spitze mit Silberfolie umwickelt war, in die Höhe und verließ das Feld. Dieser Schuss diente Monastyrskij als Signal. Er schnitt die Säcke an den Ecken auf, und die Hirse rieselte aus ihnen heraus. Dann zog er die Drähte aus den Rohren, bog sie wieder gerade und zerstörte so die von Panitkov angefertigten Figuren. Panitkovs Figuren verwandelten sich in peitschenähnliche Gebilde, deren Ende die Erde berührten, und die Säcke, aus denen die Hirse herausgerieselt war, erschienen wie im Wind sich sanft bewegende Fahnen mit einem weißen Malteser Kreuz in der Mitte.
Nachdem dieser Teil der Aktion beendet war, ging Monastyrskij zu einer bereits vorher ausgehobenen Grube (die sich nicht sichtbar für die Zuschauer links von ihnen befand – in derselben Entfernung wie die Grube, in der Letov bereits vor Ankunft der Zuschauer gelegen hatte). Die beiden Gruben bildeten gewissermaßen die Seitenbegrenzung des Feldstücks, auf dem die Aktion vor sich ging. Monastyrskij pfiff auf seinem Mundstück und wartete auf das Antwortsignal Letovs, das 15 Sekunden nach seinem Pfeifen folgte. Die Zuschauer wussten zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Anwesenheit Letovs. Kizeval’ter, der neben ihm stand, täuschte das Antwortsignal vor: Er führte eine Oboe an die Lippen, und obwohl an seiner Stelle der für die Zuschauer unsichtbare Letov den Ton erzeugte, schien für die Zuschauer Kizeval’ter die Quelle dieses Tons zu sein. Nach dem Antwortsignal legte sich Monastyrskij in die Grube und verschwand auf diese Weise aus dem Sichtfeld der Zuschauer.
Danach sammelte Kizeval’ter die Flaggen und die Rohre mit den Drähten ein, ging zum Vorhang, baute ihn zusammen mit den Aufstellstangen ab und schaltete das Tonband an, von dem nun elektrische Klingelgeräusche zu hören war.
Nach dem Einschalten des Phonogramms wurden den Zuschauern Umschläge mit faktographischen Fotos als Zeichen für das Ende der Aktion ausgegeben. Gleichzeitig mit der Ausgabe der Umschläge begann auf dem Feld ein Klangdialog zwischen Letov (verschiedene Blasinstrumente) und Monastyrskij (Mundstück einer Blockflöte).
Nach der Beendigung der visuellen Reihe der Aktion wurde auf dem leeren Feld ein 45-minütiges Musikstück „Klangdreieck“ aufgeführt, von dem zwei Spitzen für die Zuhörer (in die sich die Zuschauer verwandelt hatten) unsichtbar waren; Letov und Monastyrskij lagen links und rechts von den Zuhörern in ihren Gruben auf dem Acker. Die dritte Spitze, das Tonbandgerät, von dem das Kingelphonogramm zu hören war, stand vor den Zuschauern am Rand des Ackers.
Die musikalische Komposition endete mit einem 5-minütigen Solo des Tonbands, das aus einer dokumentarischen Aufzeichnung von Vogelgezwitscher bestand.

Gebiet Moskau, Savelovsker Bahnlinie, ein Feld bei dem Dorf Kievy Gorki
2. 6. 1984

N. Panitkov, A. Monastyrskij, S. Letov, G. Kizeval’ter, I. Makarevič, E. Elagina, E. R., N. S.

übersetzt von Günter Hirt & Sascha Wonders

Der Schuss, Foto

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