Im Jahr 1984 nahm ich einen „Blaupunkt“-VHS-Recorder aus Deutschland mit in die Sowjetunion und begann meine Video-Aktivitäten im Kreis des Moskauer Konzeptualismus mit dem Ziel, zu dokumentieren, was mir damals von Zerstörung, Verdrängung und Vergessen bedroht schien. Zu jener Zeit, als der sowjetische Staat alle technischen Reproduktionsmedien streng kontrollierte, stellte die Arbeit mit Video, da sie einen eigenen Kommunikationsraum hervorbrachte, bereits als solche eine subversive Geste dar.
In Moskau ging es mir vor allem darum, mit Hilfe meiner Video-Apparatur die Kommunikationsprozesse in einem bestimmten künstlerischen Milieu zu erforschen. Traditionelle Kunstwerke (Bilder, Texte, Objekte usw.) dienten dabei eher als Hintergrund, um mit den technischen Möglichkeiten der Kamera ästhetische Ereignisse sichtbar werden zu lassen. In diesem Sinne würde ich meine Video-Aktivitäten auch als „konzeptualistisch“ bezeichnen. Gedichtlesungen, Bilderschauen, Gespräche und insbesondere Performances bildeten in den Video-Aufzeichnungen einen Anlass zur Selbstinszenierung des subkulturellen Milieus als Gesamtkunstwerk.
Was die historische Entwicklung betrifft, so tauchten Video-Dokumentationen erst recht spät in der Praxis des Moskauer Konzeptualismus auf – mit einiger Verspätung im Vergleich zur westlichen Kunst. Als ich Mitte der 1980er Jahre mit meinen Aufzeichnungen begann, kannte ich aus der Rhein-Ruhr-Region jedoch schon sehr gut die Video-Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre von Fluxus, Nam June Paik, Wolf Vostell u.a. Vieles spielte sich direkt in unserer Nähe ab: das 24-Stunden-Happening in der Wuppertaler Galerie „Parnass“ oder die Ausstellungen von Nam June Paik und Wolf Vostell in Köln und Düsseldorf.
Meine Moskauer Video-Aktivitäten waren also ästhetisch durchaus reflektiert, selbst wenn die Aufnahmen auf den ersten Blick recht gewöhnlich aussehen. Ich habe eine einfache Amateurtechnik verwendet, mit der im Prinzip jeder arbeiten kann. Die Video-Aufnahmen sind durch keinen bestimmten Autorenstil gekennzeichnet, sie erscheinen beinahe anonym, aber darin zeigt sich gerade die Wahl eines Stils rein „apparativer“ Aufzeichnungen.
Außerdem scheint es mir interessant, dass das Moment historischer Verspätung in den ersten Ausgaben dieser Video-Aufzeichnungen sogar formal hervorgehoben ist: Die Farbe wurde nachträglich aus den Aufnahmen herausgenommen, um durch das Schwarz-Weiß einen künstlich übersteigerten Effekt des „Veralteten“ zu erzeugen.
In den Video-Bildern lässt sich zudem eine Reihe von Verweisen auf die avantgardistische Tradition finden, nicht nur auf die Schwarz-Weiß-Dokumentationen der 1960er Jahre (zum Beispiel in Amerika), sondern auch auf das klassische Kino der Avantgarde: auf den deutschen Expressionismus (über die Komposition der Schatten) oder auf das russische Avantgardekino, insbesondere auf die Reflexion der Rolle der Kamera in Dziga Vertovs Film „Der Mann mit der Kamera“.
Bei Vertov, der die Möglichkeiten der technischen Optik sehr viel höher als die Möglichkeiten des menschlichen Auges einschätzte, diente die Kamera zur Hervorbringung eines optischen Unbewussten. In dieser Tradition habe auch ich in meinen Aufnahmen versucht, Video als technisches Instrument zu erforschen, das einen anderen Horizont der Wahrnehmung, Erkenntnis und des Verhaltens eröffnet. Das neue Instrument konnte damals eine solche Forschungshaltung stimulieren, da es noch nicht alltäglich war.
Aus meiner Sicht zeichnet sich das mediale Potential von Video dadurch aus, dass die Schaffung einer bestimmten Situation und der Prozess ihrer Wiedergabe eng miteinander verbunden sind – sie beeinflussen sich wechselseitig. Derjenige, der ein Video aufnimmt, befindet sich gleichzeitig vor dem Monitor und vor der realen Situation, auf diese Weise entsteht so etwas wie eine interaktive Verbindung. Zudem können alle an der Situation Beteiligten das Aufgezeichnete sofort ansehen. Sie sind zugleich Subjekte und Objekte; Aufzeichnende und Aufgezeichnete können prinzipiell die Positionen tauschen.
Die Video-Apparatur provoziert nicht nur eine Situation, sondern eröffnet darüber hinaus einen dialogischen Horizont in dieser Situation. Ich betrachte Video als dialogisches Medium und sehe darin seine wesentliche politische Funktion. Es geht eben nicht nur darum, dass ich beispielsweise unabhängig von der staatlichen Zensur mit Video gearbeitet habe. Vom Standpunkt einer politischen Ästhetik ist viel wichtiger, auf welche Weise genau die Video-Apparatur zum Einsatz kam. Und hier lässt sich – wie mir scheint – eine gewisse Kritik an der massenmedialen Kultur im internationalen Maßstab beobachten: an der westlichen kommerziellen und der östlichen ideologischen Massenkultur.
Kritisiert wird die Einseitigkeit der Kommunikation in der massenmedialen Kultur, d.h. die Tatsache, dass der vorherrschende Gebrauch der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, dazu zwingt, bestimmte Modelle der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Verhaltens anzunehmen, die dem Adressaten keine Möglichkeit zur Antwort geben. Durchaus in der Tradition der Medienutopie Bertolt Brechts, der bekanntermaßen das Radio aus einem „Distributionsapparat“ in einen „Kommunikationsapparat“ verwandeln wollte, kann Video als Medium der dialogischen Öffnung einer Situation verstanden werden. Es geht dabei um die Schaffung eines Raums des Austauschs und der Übereinkunft, der zugleich die Voraussetzung zur Entwicklung einer verzweigten, reversiblen Netzstruktur (Vilém Flusser) darstellt.
Aufgrund seiner Aufzeichnungs- und Speicherfunktion lässt sich Video auch als Gedächtnis der Kultur betrachten. An dieser Stelle wäre eine Vielzahl von Fragen zu diskutieren, die den Begriff des „Archivs“ betreffen. Ich möchte mich jedoch auf einen Aspekt beschränken: Aus meiner Sicht ist Video ein ausgezeichnetes Medium zur Archivierung von Situationen, die normalerweise aus dem offiziellen Gedächtnis ausgeschlossen bleiben. In Hinblick auf die Gedächtnispolitik ist aber wiederum entscheidend, von welchen Kriterien die Ordnung des Archivs bestimmt wird. Für mich selbst spielt die Form der Videothek eine große Rolle. Sie stellt nicht nur das traditionelle Verständnis des Kunstwerks als deutlich abgegrenztes Einzelwerk in Frage, in der seriellen Komposition werden vielmehr auch poetische Wiederholungsfiguren erfahrbar, die eine lineare Entwicklung der Geschichte überschreiten und im Betrachter eine ästhetische Sensibilität für den formbildenden Prozess herstellen.
Die beste Präsentationsform der Video-Aufzeichnungen ist für mich derzeit also die Videothek, d.h. der Raum, in dem nicht nur die Video-Aufzeichnungen selbst, sondern auch begleitende Materialien, Texte und Bilder gesammelt und aufbewahrt werden. In der Videothek kann sich der Betrachter solange aufhalten, wie er Videos ansehen, lesen bzw. die Materialien studieren möchte. Die recht „leeren“, meditativen Aufnahmen, in denen fast nichts geschieht, schicken ihn gewissermaßen auf eine „sekundäre“ Reise durch verschiedene Schichten der Dokumentation, auf der er das Ereignis rekonstruieren und seine eigene Einstellung dazu erforschen kann.
In der Tradition des textualisierten Bildes haben wir es hier nicht mit der mimetischen Darstellung eines Sichtbaren zu tun, sondern mit einer Bezugnahme auf die Sphäre der unsichtbaren Bedeutungen. Eine solche Dokumentationspraxis lenkt die Aufmerksamkeit auf etwas, das sich außerhalb der eigenen Grenzen befindet. Es entsteht eine offene Serie von Verweisen auf etwas „Anderes“.
Auf den Begriff „video poiesis“ bin ich wohl intuitiv in Abgrenzung von dem Terminus „video art“ gekommen, der meinem Gefühl nach zu sehr mit einem traditionellen Verständnis des Kunstwerks verbunden ist. Der neue Begriff betont nicht die Geschlossenheit eines Werks, sondern im Gegenteil gerade den Prozess, die ästhetische Praxis. Dabei erscheint der Video-Monitor nicht bloß als Spiegel, vielmehr als Fenster, er reflektiert nicht das Licht, sondern strahlt es aus und schafft auf diese Weise einen neuen Bildtyp, der auf eine Transzendierung der uns gegebenen Realität ausgerichtet ist.